und dann kam alles anderst...

zur falschen Zeit am falschen Ort

In Khorog fanden wir ein Zimmer in einem privaten Homestay etwas oberhalb der Stadt, während Pete, Mary, Arian und Moniek in der nahegelegenen Pamir Lodge ein halbfertiges Zimmer bezogen. Es war nicht genug Platz für alle sechs am gleichen Ort. Unabhängig voneinander erledigten wir unsere Vorbereitungen für das Pamirgebirge und trafen uns zum Nachtessen. Gerüchte kursierten, dass ein wichtiger Regierungsmitarbeiter ermordet worden sei in der Nähe von Khorog. Dann hiess es wieder, es sei nicht wahr. Verschiedene Personen versicherten uns, dass kein Problem vorhanden sei. Da wir noch einige Reparaturen usw. zu erledigen hatten, entschieden wir uns eine Nacht länger in Khorog zu bleiben. Und so kam alles anderst...

Am nächsten Tag fragten wir uns mehr und mehr, was hier vor sich ging. Der KGB-Chef, ein Regierungsanhänger, war tatsächlich zwei Tage zuvor ermordet worden. Am Nachmittag machte ein Einkaufsladen um den andern zu. Im Restaurant meinte der Besitzer, wir könnten nichts mehr essen, weil er sofort schliessen müsse. "Warum?" "Das wurde angeordnet, damit die Mitarbeiter früh zuhause sind. Kein Problem für euch Touristen". Auch auf dem Touristenbüro wurde uns versichert, dass alles okay sei. Warum aber konnten wir in der Stadt immer mehr Militär sehen? Von Viktor, der gerade mit seinem Fahrrad in die Stadt kam, hörten wir, dass sehr viele Militärhelikopter von Dushanbe eingeflogen sind. Die Stassen rund um Khorog wurden gesperrt. Nachmittags um 16.00 Uhr war die Stimmung in der Stadt so unangenehm, dass wir es bevorzugten in unser Homestay zurück zu gehen. Die Homestay-Mutter meinte, wir sollen nicht mehr in die Stadt zurück gehen. Es sei gefährlich. Nach all den irreführenden Informationen wollten wir uns bei der schweizerischen Botschaft in Dushanbe erkundigen. Doch wir hatten keine Handy-Verbindung. Also würden wir das am nächsten Morgen machen, wenn die Verbindung wieder gehen würde...

Krieg in Khorog

... Die Verbindungen zur Aussenwelt waren gekappt. Kein Radio, kein TV, kein Handy, kein Festnetz, kein Internet. Um 4.30 Uhr in der Nacht erwachten wir beide, weil wir Schüsse hörten. Immer mehr Schüsse, überall! Zitternd lagen wir im Bett. Scheisse, was war jetzt los? Alle im Haus trafen wir uns bleich im Korridor, die Homestay-Mutter, Julie und Adam (CH Velofahrer), Andrea und ihre Tochter (CH), Viktor (Es), Patrick (F) und diskutierten. Vielleicht wollte das Militär Präsenz markieren und schoss in die Luft, das würde wohl hoffentlich bei Sonnenaufgang aufhören. Doch die Schiessereien dauerten an, den ganzen Tag und wurden immer schlimmer. Wir sassen fest. Nein, das waren keine Schüsse in die Luft. Da wurde gekämpft und zwar mit viel zu grossem Geschoss. Wir hörten Maschinengewehre, Handgranaten, Kanonen, Panzer und Scharfschützen. In der Stadt sahen wir Rauchwolken aufsteigen, nicht weit von uns. Zwar erfuhren wir von unserer Gastfamilie einiges über die offensichtlich verherende politische Situation (es würde den Rahmen sprengen, die verstrickte Geschichte Tadschikistans zu erklären). Kurz gesagt kämpfte die Bevölkerung Khorogs gegen das Militär. Was draussen aber vor sich ging, konnten wir nicht erfahren. Es war nicht daran zu denken, das Haus zu verlassen. Im Wohnzimmer, dem sichersten Raum im Haus, versuchten wir uns so gut wie möglich abzulenken - spielten mit Michelle (8 Jahre) UNO, schauten Fotos an, versuchten zu schlafen oder zu lesen. Gleichzeitig hatten wir so grosse Angst, wie nie zuvor. Wie ging es den andern in der Pamir-Lodge? Hatten sie mehr Infos als wir? Hatten wir falsch reagiert am Tag zuvor? Wie lange würde das dauern? Und wie kommen wir hier heil wieder raus?

Gegen Abend, nach 17 Stunden ununterbrochenen Schiessereien, wurde es etwas ruhiger. Doch jedes Mal, wenn wir uns anschauten und sagten: "Jetzt hat es aufgehört", fing es gleich wieder an. Ein Notfall-Rucksack hatten wir schon griffbereit, falls wir überstürzt weg müssten. Hatten doch beide Seiten kein Interesse daran, durch ausländische Touristen internationale Aufmerksamkeit zu erregen. Wir konnten etwas schlafen, in der Nacht war es ruhig, doch um 4.30 Uhr ging es wieder los. Zwei Stunden später, durch Schüsse sehr nahe um unser Haus erschreckt, trafen wir uns wieder alle im Wohnzimmer. Hatte da etwas unsere Mauern getroffen? Wir konnten nichts tun, nur möglichst ruhig bleiben. Es tat gut, mit den andern zu sprechen. Um 11.00 Uhr standen Arian, Roman und Pete an der Türe. Sie hatten es gewagt, als es wieder ruhiger wurde, die 100m von der Pamir-Lodge zu uns zu rennen. Leider konnten wir uns gegenseiteig zwar nicht mit Informationen weiterhelfen. Wir hatten gehofft, jemand in der Pamir-Lodge hätte ein Satelitentelefon. Es tat aber gut, sie zu sehen.

Kaum waren die drei in die Pamir-Lodge zurückgegangen, kamen sie auch schon wieder zurück. Es sei Waffenstillstand bis 14.00 Uhr. Würden sich die Parteien in dieser Zeit nicht einigen, würde weitergekämpft. Arian meinte, dann würde das Militär wohl zu noch schärferen Massnahmen greifen. Wir glaubten nicht an eine friedliche Lösung und erwarteten einen schlimmeren Verlauf. Wir waren uns einig, wir sollten die Stadt verlassen. Wer weiss, wie es weiter ging. Auf Transport konnten wir uns nicht verlassen, wir hatten keine Ahnung, wie es draussen aussah. Sicher wäre es das Beste, in einer möglichst grossen Gruppe zusammen die Stadt zu verlassen. So taten wir uns alle 10 Fahrradfahrer, die wir finden konnten, zusammen und trafen uns 30min später vor der Pamir-Lodge. Wir waren extrem nervös. Würde wirklich nicht geschossen? Wie sah es in der Stadt aus? Und wie war die Situation ausserhalb von Khorog? Als Tobias und ich uns von der Homestay-Mutter verabschiedeten, hatten wir alle Tränen in den Augen. Wie würde es für sie weitergehen?

Zwar war es beruhigend, dass viele Menschen auf der Strasse waren. Familien mit Sack und Pack suchten nach einem Transport aus der Stadt. Die Strassen waren voll mit leeren Patronen, kaputten Strassenlampen, ausgebrannten Autos, beschädigten Häuser. Aber ich mochte das nicht sehen, sondern einfach nur weg hier. Das dachten wir alle und so pedalten wir in einem beachtlichen Tempo aus der Stadt Richtung Pamir, schmierten noch den Militärposten, damit das Ganze auch genug schnell ging. Nur 5km weiter im nächsten Dorf war es friedlich, wie wenn nie etwas geschehen wäre. Ohne lange Pausen fuhren wir den Rest des Tages und fragten möglichst viele Leute über die Situation ausserhalb Khorogs aus. Achselzucken und ein freundliches Lächeln - als wäre nie etwas passiert. Man kann sich kaum einen friedlicheren Platz auf Erden vorstellen, als zwischen den Bergen im Pamir. Es war ein komisches Gefühl und wir fragten uns, ob oder wann wir überhaupt wieder sorglos weiterreisen konnten. Wir hatten richtig entschieden, in einer möglichst grossen Gruppe weiter zu fahren. Hier in dieser unglaublichen Landschaft konnten wir uns wieder etwas beruhigen und staunen. Es war ein Tag der Extreme für unsere Emotionen.

Am nächsten Tag erfuhren wir, das Khorog offen sei. Wir traffen Motorradfahrer, die Khorog an diesem Tag passierten und uns beruhigten, es sei "stabil". Nach wie vor konnten wir uns nicht zuhause melden. Die Verbindungen würden wahrscheinlich bis Kirgistan gekappt bleiben. Eine Message für zuhause gaben wir den Motorradfahrern mit auf den Weg. Im dem verlassenen Pamirgebrige fühlten wir uns zunehmend wieder sicher und schon nach wenigen Tagen kam uns die ganze Geschichte wie ein bizarrer Albtraum vor. Doch die Fühler nach jeglichen Unsicherheiten bleiben ausgefahren, denn die schönste Reise ist eine solche Situation nicht wert.

Homepage von Mary und Pete: www.twoonfourwheels.com

Homepage von Moniek und Arian: www.worldbybike.nl

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